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Übersee

von Peter Fritz
(Washington DC)



Menschenleben

Die Brücke über den Schiffahrtskanal bei Seattle ist 50 Meter hoch. Wer hinunterschaut, der sieht tief, tief unten das eiskalte Wasser unter sich, wie es langsam der Meeresbucht entgegenfließt. Eine 26jährige Frau, deren Namen geheimgehalten wird, kennt diesen Anblick. Sie ist auf auf der Brücke gestanden, wollte hinunterspringen, um ihrem Leben ein Ende zu machen. Polizisten redeten auf die Lebensmüde ein, versuchten sie zu beruhigen. Die Autobahn sperrten sie ab, mitten im dichten Frühverkehr. Und dann hörten sie hinter sich die Rufe, die ihnen durch Mark und Bein gingen: „Spring- spring doch endlich!" „Spring, du Luder!".
Erzürnte Autofahrer, aufgehalten auf dem Weg zur Arbeit, ließen ihrem Ärger freien Lauf und spielten ganz offen mit einem Menschenleben. Nach drei Stunden bekamen die Autofahrer, was sie wollten: Die junge Frau sprang in die Tiefe. Sie hat den Sprung in den vermeintlichen Tod knapp überlebt. Sie liegt auf der Intensivstation, könnte mit etwas Glück wieder ganz gesund werden.
Aber die Rufe der Autofahrer hallten noch tagelang nach. „Sind wir ein Volk von brutalen Menschenverächtern?" fragte man sich in Radio- und Fernsehshows. Da hatte sich die Geschichte aber schon wieder weitergedreht und eine Wendung zum Menschlichen hin genommen: Hunderte Anrufer meldeten sich im Krankenhaus von Seattle, versprachen der jungen Frau Rat, Trost und Hilfe. Dutzende Blumensträuße trafen ein, dazu körbeweise Post mit aufmunternden Botschaften, meist einfach adressiert an „die Frau von der Brücke".
Die Bürger von Seattle hatten sich immer viel darauf eingebildet, weitum als freundlich, höflich und tolerant zu gelten. Die Schreier von der Brücke haben diesen guten Ruf scharf angekratzt. Aber immerhin gibt es sehr viele, die sich wenigstens nachträglich bemüht haben, dem blanken Zynismus seine mörderische Spitze zu nehmen.



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