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Übersee

von Peter Fritz
(Washington DC)

Andere Sitten

Um sechs Uhr früh läuten in meinem Heimatort am Faakersee zum ersten Mal die Kirchenglocken. Sie läuten ziemlich laut. In den Jahren, die ich dort verbracht habe, ist mir das kein einziges Mal aufgefallen. Das Läuten war so selbstverständlich, daß ich es gar nicht mehr mitbekommen habe. Jetzt lebe ich in den Vereinigten Staaten von Amerika, seit viereinhalb Jahren. Und beim Urlaub in Kärnten schrecke ich auf einmal aus dem Schlaf, wenn die Kirchenglocken den Tagesanbruch verkünden.
Auch so manches andere am einst normalen Alltag erscheint plötzlich ungewohnt. Beim Einkaufen eine Schrecksekunde: Ach ja, ich muß mich ja wieder selbst ums Einpacken meiner Waren kümmern, und das Plastiksackerl kostet Geld. In Amerika wird einem an der Kassa alles tragfertig verpackt und auf Wunsch sogar ins Auto gehievt. Und wenn man diese Art von Komfort einmal kennengelernt hat, dann gewöhnt man sich daran nur allzu gerne.
Beim Autofahren gibt es dafür wieder eine Überraschung der angenehmen Art. Ich will die Spur wechseln, betätige den Blinker, und schon lassen mich die anderen galant auf ihre Fahrbahn einschwenken. In Washington werden Blinksignale grundsätzlich ignoriert. Jeder Autofahrer beharrt dort auf seinem Recht, an mir vorbeizuziehen, freiwillig gibt er keinen Meter Vorsprung auf.
Daß in anderen Ländern andere Sitten herrschen, ist logisch. Aber nach Jahren im Ausland läuft es manchmal umgekehrt. Gewöhnt an die Sitten von "drüben", entdecke ich jetzt das eigene Land wieder aufs Neue. Zeit dazu habe ich genug. Denn die Glocken der Kirche von Pogöriach wecken mich zuverlässig jeden Tag um sechs Uhr früh.